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Luca Lampo [epidemiC]
Vor nur dreißig Jahren begann der Einzug der menschlichen Sprache in das digitale Netz. 75% des
ARPANET-Verkehrs waren E-Mails. Es war das Kommunikationsmittel einiger weniger tausend Personen;
derselben Personen, die die Teile des Systems, das wir Internet nennen, erfunden und konstruiert
haben. In jenen simplen E-Mails zeichnete sich damals eine zukünftige Revolution ab. Heute durchzieht
die Sprache von Millionen von Menschen das Netz, das sie nach ihren eigenen Vorstellungen und Gutdünken
verändern. War das Internet einst Teil der Geschichte der Informatik, ist es heute einfach Geschichte.
An dieser Stelle könnte die dem Menschen ureigene Trägheit folgende Frage aufwerfen: "Entschuldigen Sie,
Herr Digital, wo kann ich die letzten 25.000 Jahre der menschlichen Sprache finden?" Die naheliegende
Antwort wäre: "Tut mir leid, aber ich bin gerade erst angekommen... haben Sie je von staubigen Archiven
wie Bibliotheken, Pinakotheken etc. etc. gehört?"
Der Programmbefehl "Speichern als..." ist nicht erst mit der Entwicklung des Computers entstanden.
Im Mittelalter haben Benediktinermönche zahlreiche antike Schriften archiviert; und fast alle Statuen
der Griechischen Antike sind, Jahrhunderte später, von Handwerkern des antiken Roms gerettet worden.
Obwohl dieses sonderbar erscheinen mag, wäre es meiner Ansicht nach eine interessante Betrachtungsweise,
um das Song-Swapping zu begreifen. In nur drei Jahren hat es allen mit Internet ausgestatteten Personen
ein umfangreiches und effizientes Archivierungssystem für Musik zur Verfügung gestellt. Und nicht nur das.
Abgesehen vom Internet, versuchen wir uns einmal andere Faktoren vorzustellen, die die Entstehung und
Weiterentwicklung dieses Phänomens ermöglicht und vereinfacht haben.
1) Das Audio-Kompressionsformat MP3 hat einerseits die Qualität des archivierten Klangs garantiert und
andererseits seinen Transfer im Netz erleichtert.
2) Die Kompatibilität von Audio-CDs und in Computern vorhandenen CD-ROM- Playern hat die Umwandlung
von musikalischen Inhalten erleichtert.
3) Die Systeme der Peer-to-Peer Netze haben Einzelnen gestattet, mit äußerster Leichtigkeit ihre
eigenen Musikarchive in die Öffentlichkeit zu bringen.
4) Der Wille von Millionen Individuen, die ohne Gewinn eben dieses vernetzte Archiv durch die
Komprimierung von MP3- Inhalten bearbeitet und bereichert haben.
Während die ersten drei Faktoren technologischer Natur sind, ist der vierte als menschliche Einstellung
schwer messbar. Dieses Verhalten erschöpft sich nicht in dem Freudens- bzw. Schreckensruf "Musik gratis!",
weil man bei Peer-to-Peer- Systemen schließlich nichts geben muss, um etwas zu bekommen. Es erscheint
paradox, aber wenn alle bequemerweise Musik genommen hätten, ohne Musik zu geben, wäre das gesamte
System aus Mangel an Inhalten zusammengebrochen und wir würden heute weder von MP3 noch von Peer-to-Peer
reden.
Sind die "Swappers" also eine Art Neu-Benediktiner, gierig nach Überfluss? Ich würde das nicht ausschließen.
Häufig hält die Informatik den Datenüberfluss für eine nutzlose Vergeudung von Ressourcen, aber wenn sich
tausend Neu-Benediktiner denselben Song teilen, wird er schwerlich verloren gehen. Wäre ich der Musiker,
würde ich es ihnen wohl danken.
Die geografische Verbreitung von CD- und Buch-Megastores garantiert keine Auffindbarkeit der Objekte,
die wir suchen: ein Produkt, das "ausverkauft" oder "nicht mehr lieferbar" ist, verspricht ein langes
Umherwandern zwischen Bibliotheken und Gebrauchtwarenläden.
Der Mythos der Geschwindigkeit und Verfügbarkeit von Informationen im Internet kann leicht täuschen:
aus der Zeit, in der es noch kein Internet gab, lagern noch Unmengen von Inhalten in den Kellern der
Bibliotheken; in Kisten, Schränken und Kühlschränken. Die Kosten und die zu veranschlagende Zeit für
die Digitalisierung und die anschließende Veröffentlichung sind enorm.
Dank MP3- Format und Peer-to-Peer-Systemen ist die Musik zum Mittelpunkt einer spontanen kollektiven
Archivierung geworden, aber was ist mit den anderen Ausdrucksmitteln? Schrift, Bilder, Bewegungsbildern...
die abschließende Frage lautet: "Kann das Beispiel des Song-Swapping mit seinen Modellen, Methoden und
Systemen dabei helfen, die Inhalte der vordigitalen Ära zu archivieren und zu publizieren?" Ich würde
das nicht ausschließen.
Ich habe absichtlich das Wort "Erkenntnis" vermieden, und willentlich bin ich nicht auf rechtliche
Konflikte eingegangen, die das Song-Swapping-Phänomen von Anfang an begleitet haben. Muss das Copyright
schon seit einem Jahrhundert Unheil ertragen, erfreut sich die Musik hingegen seit 25.000 Jahren bester
Gesundheit.
Copyright (C) November 2002 Luca Lampo [epidemiC]
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